„Im Laufe der Jahre war man seine eigene Archivarin geworden“

Die Verflechtung von Krieg, Patriarchat und einer vergessenen Generation in den Romanen «Für Seka», «Meine Katze Jugoslawien» und «Radio Sarajevo»

Anne Bendel, im Juli 2025

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  • Wie schreibt man über einen Krieg, der in den Köpfen vieler Europäer*innen längst verschwunden zu sein scheint? Ein Krieg, respektive viele Kriege, die zum Teil noch nicht einmal 30 Jahre zurückliegen. Die Rede ist von den Jugoslawienkriegen in den 1990ern und frühen 2000ern. Wie der Untertitel bereits vermuten lässt, geht es in diesem Beitrag nicht primär um die Kriege selbst, sondern um den Versuch einer Annäherung an die Generation, die diese Kriege miterlebt hat, insbesondere jene, die als Kinder, entweder kurz vor Ausbruch des Krieges oder währenddessen, meist mit ihren Eltern, flüchteten. Ausserdem wird vorgeschlagen, die Literatur, mit deren Hilfe der Versuch unternommen wird über die Kriege und gegen das Vergessen zu schreiben, selbst schon als Archiv zu betrachten.

    Tijan Sila, der 1994 mit 12 Jahren als Kriegsflüchtling nach Deutschland kam, schreibt in seinem Roman «Radio Sarajevo» (2023) in den Anmerkungen: «In Bosnien wird die Generation meiner Eltern die „entwurzelte“ oder die „ausgerissene“ genannt. Meine Generation aber hat keinen Spitznamen, wir sind die Vergessenen.» [1] Es ist ein autobiographischer Roman, der mit Wucht von dem erzählt, was für viele von uns unvorstellbar scheint: Die unausweichliche Einsicht, dass Krieg, für diejenigen, die ihn einmal erlebt haben, wohl niemals vorüber sein wird. Dies wird besonders in «Radio Sarajevo», aber auch in den beiden anderen ausgewählten Romanen «Für Seka» (2023) und «Meine Katze Jugoslawien» (2024, Originalausgabe 2014) deutlich.

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    Daneben geht es in diesem Beitrag um die Rolle des Patriarchats in den drei genannten Romanen. Wie hängen Krieg und Patriarchat zusammen und welche Rolle spielen die von Tijan Sila so simpel wie treffend benannten «Vergessenen»? Wie werden die Verstrickungen zwischen den Generationen in dem jeweiligen Roman verhandelt? Welchen Ausweg gibt es: aus dem Patriarchat, aus Kriegen – auch jenen innerhalb von Familien? Welchen Ausweg gibt es aus dem Vergessen? Diesen Fragen möchte ich mich in diesem Beitrag versuchen anzunähern.

    Zuvor aber wage ich einen Exkurs, der gleichzeitig die Rolle des Archivischen in diesem Beitrag in den Blick nehmen soll. Archive als Orte, die eine zuverlässige Quelle für das Erinnern und die Geschichtsschreibung bieten, aber nicht als einzige Orte angesehen werden dürfen, die das Erinnern bewahren.

    Archive sind virulente Orte, die den Zugang zu Quellen ermöglichen, die ohne Archive möglicherweise niemals zugänglich wären. Archive aber sind auch ambivalente Orte. Sie stehen keineswegs «per se auf der Seite der historischen „Justitia“» (4), wie Marcel Lepper und Ulrich Raulff in ihrem Beitrag Idee des Archivs im «Handbuch Archiv» schreiben. [2] Weiter heisst es: «Archive können auch als Institutionen der Selbstgerechtigkeit, der Rache, der Empörung, des Ressentiment gegründet, betrieben und benutzt werden.» (ebd.) Auch aus diesem Grund erstaunt es mich immer wieder, wie wenig Archive und Archivtheorie im geisteswissenschaftlichen Studium behandelt werden und welche Überzeugungen über Archive z.T. noch immer vorherrschen: Nämlich, dass man in Archiven per se findet wonach man sucht und dass hier lückenlos alle Quellen enthalten seien. Das Archiv ist ein lückenhafter Ort, nicht nur, weil es unmöglich ist alle Quellen, die jemals produziert wurden zu bewahren, sondern auch, weil die Bedingungen und Möglichkeiten von Archivarbeit abhängig davon sind, in welche politischen Systeme Archive eingebettet sind.

    In den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens scheinen die Archive nicht unbedingt auf der Seite der Justitia zu stehen. Da ist der Unwille zur Aufarbeitung gepaart mit dem Aufbau einer nationalen Erinnerungskultur, die nur Platz für die eigenen «Helden» zu haben scheint. In einem Artikel aus der NZZ vom 31. Oktober 2024 heisst es:

    «Obwohl auf beiden Seiten des Konflikts Hunderte Angehörige auf Aufklärung hoffen, wird diese von der Politik ignoriert oder sogar blockiert. […] Insbesondere Kosovo fordert von Serbien, die Archive serbischer Militäreinheiten öffentlich zugänglich zu machen. Diese sollen Hinweise auf den Verbleib vermisster Personen liefern. Kosovos Ministerpräsident Albin Kurti beschuldigte Belgrad, die Archive verschlossen zu halten, gerade weil sie solche Hinweise enthielten.» [3]

    Letztlich sperren sich beide Seiten, sowohl die kosovarische als auch die serbische, zu einer vollständigen Aufklärung. Die serbische Menschenrechtsaktivistin Natasa Kandic [4] erklärt gegenüber der NZZ, dass sich beide Seiten «ausschliesslich auf die eigenen Opfer [fokussierten]» und «um diese eine nationale Erinnerungskultur [aufbauten]». In dem Online-Magazin Gazeta Insajderi, einem Medienunternehmen in Pristina, heisst es in einem Artikel vom 12. Januar 2025:

    «In einem Interview für Ekonomia Online kritisierte Kushtrim Gara, Vertreter der Regierungskommission für Vermisste, die mangelnde Bereitschaft der serbischen Seite, Daten aus den Archiven bereitzustellen, was den Fortschritt der Forschung behindere.» [5]

    Meine Haltung mit archive.matter(s) ist klar: Ich stehe für Forschungsfreiheit und Zugänglichkeit zu historischen Akten. Dennoch muss auf die Komplexität der Fragen des Zugangs, gerade bei so jungen historischen Akten, verwiesen werden. Dabei sind Archivgesetzgebungen zu berücksichtigen bei gleichzeitiger Abwägung von Forschungsfreiheit und Datenschutz. Diese Debatte darf niemals willkürlich passieren und muss hinterfragbar bleiben. Was die Archivgesetzgebung der Staaten des ehemaligen Jugoslawiens betrifft, so sind diese jeweils sehr unterschiedlich geregelt. Dies an dieser Stelle zu erörtern, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ich möchte daher auf einen Beitrag von Běla Marani verweisen, der zwar nicht explizit über Archive im ehemaligen Jugoslawien schreibt, jedoch am Beispiel der Auflösung der ČSFR, der Gründung des Kantons Jura und des Übertritts des Bezirks Laufen beschreibt, wie die Aufteilung der Archive bei Staatensukzession funktionieren kann. [6]

    Gerade weil das Archiv ein lückenhafter Ort ist, brauchen wir Gegennarrative, die einen anderen Zugang zu Geschichte ermöglichen. Ein solches Gegennarrativ kann die Literatur sein. In seinem Beitrag Vom Ort der Sammlung schreibt Doron Rabinovici: [7]

    «Der Archivar, der mir den Zugang zu Akten verwehrt, behindert mich als Historiker, nicht aber unbedingt als Schriftsteller. […] Wie es gewesen sein wird, kann die Literatur verdeutlichen, und das bedeutet nicht bloß, wie es wohl geschehen sein könnte, sondern heißt weiters, eine Kalkulation, ein Zählen und ein Erzählen, eine Abrechnung mit dem, was uns noch zustoßen kann. Literatur vermag zu offenbaren, was den Einzelnen widerfuhr und wie es für sie gewesen sein wird. Es heißt, fortzuschreiben, wie es überwunden und einst eingesehen werden wird.» (135f.)

    Was damit ausdrücklich nicht gemeint sein soll, ist, dass die Literatur als Gegennarrativ ein Ersatz für eine Aufarbeitung mithilfe von Akten aus Archiven darstellen kann und soll. Ich verstehe die Literatur als eine mögliche Ergänzung zu vorhandenen, potentiell vorhandenen, nicht (mehr) oder noch nicht vorhandenen Dokumenten im Archiv. Die drei ausgewählten Romane lese ich auf genau diese Weise. Es geht um die Befragung eines Archivs, das einen anderen Zugang zur Geschichte zulässt – und dieses Archiv ist die Literatur.

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    Mit «Für Seka» hat Mina Hava aus meiner Sicht genau solch eine Literatur vorgelegt. [8] «Für Seka» ist zweifelsohne ein aussergewöhnlicher Roman. Der Roman ist nicht linear geschrieben, dabei jedoch nur auf den ersten Blick unzusammenhängend. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Romans liegt in der Form, der einer Archivrecherche ähnelt: «Ein Roman wie ein Zettelkasten», wie Franziska Hirsbrunner in einem Beitrag für den SRF schreibt. [9] Für ihren Roman hat Mina Hava auch in den SRF-Archiven recherchiert. «Für Seka» ist also durchaus als Archivroman zu lesen. Auf den ersten Seiten heisst es:

    «Es war als habe man lediglich nach Aufzeichnungen zu suchen, um zu verstehen, dass die eigene Geschichte über keine Archive verfügte. Die Bibliotheken waren im Zuge des Krieges verbrannt. Diese Einsicht kam schnell, hatte man doch die Videos gesehen von Mostar, von Sarajevo, den einsamen Cellospieler in den Trümmern der Nationalbibliothek, der jedes Todesopfer, das für Brot angestanden hatte und bei einem Mörseranschlag ums Leben gekommen war, zweiundzwanzig Tage in Folge spielen würde. Sich heute in Räumen der Hochkultur, wie jemand auf dem Weg zum Kolloquium borniert sagte, zu bewegen, Geschichte zu studieren, sich mit Relikten und Deutungen jener vertraut zu machen, die einen nie im Blick hatten, nur auf das eigene Gutdünken achtgaben, sich daran störten, wenn man sagte, man wolle sich nicht mit ihrer Forschung vertraut machen, sondern sich um die eigene bemühen, war, als würde man im deutschen Lesesaal verloren gehen. […] Im Laufe der Jahre war man seine eigene Archivarin geworden.» (18f.)

    Die Literatur, das Schreiben, wird, wie mir scheint, zu einem Hilfsmittel die Lücken des Archivs, vielleicht nicht zu schliessen, so doch auf sie zu verweisen und genau dadurch eine Gegenerzählung zu schaffen, die die Möglichkeiten und Bedingungen von Archiven nicht nur mit einbezieht, sondern auch zu kontextualisieren sucht. Diese phänomenologische Herangehensweise durchzieht den gesamten Roman.

    Das Potential Wege zu möglichen Wahrheiten zu eröffnen, erscheint mir durchaus beachtenswert. Dies darf andererseits nicht bedeuten, dass das Gegenteil nicht auch der Fall sein kann. Literatur steht ebenso wenig wie das Archiv per se auf der Seite der Wahrheit oder der Justitia. Dieser Umstand ist möglicherweise für autobiographische (und autofiktionale) Literatur noch signifikanter. [10] Wenn wir dies berücksichtigen, kann uns die Literatur durchaus neue Sichtweisen und Perspektiven eröffnen, die aus Archivakten möglicherweise nie hervorgehen könnten, auch nicht aus wissenschaftlichen Texten über sie – selbst wenn sie die Lücken des Archivs behandeln. Literatur muss, anders als die Wissenschaft keinen Beweis vorbringen. In diesem Sinne verhält es sich ganz wie Doron Rabinovici sagt: «Literatur vermag zu offenbaren, was den Einzelnen widerfuhr und wie es für sie gewesen sein wird.» Genau darin sehe ich das Potential dieses Romans und der Literatur als Gegennarrativ zu Archiven.

    Mina Hava beschäftigt sich in ihrem Roman «Für Seka» nicht nur mit dem Vergessen, dem durch zerstörte Archive und Bibliotheken Nicht-mehr-Zugänglichen, nicht nur mit den Lücken der eigenen Geschichte und jenen der Archive. Sie schreibt an – gegen eine Erinnerungskultur, die keine ist. Gegen koloniale Verstrickungen. Gegen patriarchale Gewalt und ein, aus der Sicht der Schreibenden, heuchlerisches System, dass diese nicht nur leugnet, sondern auch befördert: den Kapitalismus und eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf Ausbeutung, Unterdrückung und zwanghafte Anpassung ausgelegt ist:

    «Sie betrachtete ein Dokument vom 5. Mai 1980, das ihren Blick auf diese – allem Anschein nach eigenwilligen oder -artigen – Gastarbeiter schärfte. Es war ein Videomitschnitt. Die prototypische Wiedergabe eines solchen, der dankbar sein musste, der froh sein durfte, dass er überhaupt hier, dass er einen Fuß auf Schweizer Boden setzen und arbeiten durfte. […] Was mit ihren Frauen war, welcher Lauf der Dinge ihnen gebührte, blieb außer Sicht. In der Schweiz fand man sie in den letzten Winkeln des öffentlichen Raumes und störte sich an ihrer Erscheinung, wenn sie auf die Straße traten, obschon sie alle Vorzeichen der Modernität trugen: die Mode, die Arbeit.» (88f.)

    An anderer Stelle heisst es:

    «Mutter und Tochter teilten die Erfahrung der Ohnmacht, wenn zur Anzeige dringende Beweise fehlten. Sie kannten den Vater als «Gewaltorgan», wie Seka bei Herta Müller lesen würde. Jede für sich. Alleine. Ohne darüber zu sprechen, war dies die Erfahrung, die sie aneinanderband. Es band sie zum einen das Gefühl der Trauer, zum anderen die Wut, die so weit trieb, töten zu wollen.» (48)

    Genau darin liegt der Kreislauf des Patriarchats, der immer weiter geht und aus deren Fängen sich zu befreien als vielleicht wirksamstes Mittel angesehen werden kann, um Kriege, Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden.

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    Um patriarchale Gewalt geht es auch in «Meine Katze Jugoslawien». [11] Wie «Für Seka» ist auch «Meine Katze Jugoslawien» ein aussergewöhnlicher Roman, der sich nicht in eine Kategorie zwängen lässt: Es ist weder ein klassischer «Exilroman» noch lässt sich dieser Roman ausschliesslich als «queere Literatur» bezeichnen. Müsste man ihn zuordnen, würde man wohl am ehesten den magischen Realismus wählen: Es geht um Träume, Verschmelzungen mit der Wirklichkeit und einen Krieg, der kaum begreifbar und vielleicht gerade deshalb nur mit surrealen Mitteln beschreibbar ist.

    «Meine Katze Jugoslawien» zeigt auf ganz eigenwillige Weise die Verflechtungen und Verstrickungen, die sich aus dem Zusammenspiel aus Patriarchat, Krieg, Exil und dem Anders-Sein erst ergeben. Auch Transgenerationentraumata spielen mit hinein. In diesem Sinne teile ich die Einschätzung der New York Times: «[My cat yugoslawia is a] marvel, a remarkable achievement, and a world apart from anything you are likely to read this year»

    Pajtim Statovci erzählt im Wechsel aus der Ich-Perspektive die Geschichte von Bekim und seiner Mutter Emine. Beide sind von patriarchaler Gewalt betroffen. Beide verbindet und trennt diese zugleich. Emine wächst in den 1980er Jahren auf dem Gebiet des heutigen Kosovo [12] auf, hineingeboren in patriarchale Strukturen, mit denen sie schon in jungen Jahren konfrontiert wird. Nachdem sich Emine und Bajram, ihr zukünftiger Ehemann, zum ersten Mal begegnet waren, beschliessen die Väter der beiden per Handschlag ihre Heirat:

    «Das war der Wendepunkt im Leben beider: Der Vater des Mädchens hörte auf, der Vater des Mädchens zu sein, und das Mädchen hörte auf, die Tochter des Vaters zu sein. Das Mädchen dachte, dass alles, was sein Vater über die Liebe und das Glück gesagt hatte, etwas anderes bedeute hatte, denn nachdem sich ein junger Mann und eine junge Frau begegnet waren, durften sie sich nicht immer in Ruhe kennenlernen, […] der Vater des Mädchens schüttelte den Kopf und dachte, dass seine Tochter unrealistische Vorstellungen von der Liebe und vom Glück hatte, weil das Wichtigste im Leben nicht Liebe und Glück waren, sondern Frieden.» (38f.)

    Diesen Frieden aber gab es nur zu einem Preis: der Unterwerfung und Eingliederung der Frauen und Kinder in ein patriarchales System. Wer sich auflehnte, wurde mit Gewalt bestraft. Was als Auflehnung, das heisst als inakzeptables Verhalten, galt, lag dabei in der Entscheidungsgewalt der Männer. Echter Frieden aber ist ohne Freiheit nicht möglich, auch nicht für Emine, die sich in kleinen Gesten gegen ihren Mann aufzulehnen suchte: «Und da schaute mich Barjam an, wie er mich immer in Momenten anschaut, in denen ich nicht still bin, obwohl ich es sein sollte.» (218)

    Auch Bekim, ihr queerer Sohn, wird von der patriarchalen Gewalt des Vaters und Grossvaters nicht verschont. Nach der Flucht der Eltern vor dem beginnenden Kosovokrieg nach Helsinki entfremdet er sich zunehmend von der Familie. In einer Schwulenbar begegnet er schliesslich einer sprechenden Katze, die ihn durch manipulatives Verhalten dazu bringt mit ihr eine Beziehung einzugehen und sich in seine Wohnung einnistet. Die Katze steht dabei, wie mir scheint, sinnbildlich für das Patriarchat, patriarchales Verhalten, Ausgrenzung und die Unfähigkeit sich von diesem System zu lösen:

    «“Du siehst einfach schrecklich aus“, behauptete die Katze großspurig. „Ich kenne dich nicht und würde dich schon gar nicht umarmen, pfui.“ Sie tat so, als spuckte sie in meine Richtung. „So was wie dich“» Ich war so schockiert vom Urteil der Katze, dass ich nichts anderes konnte, als still neben ihr sitzen zu bleiben. „Na ja, heh, heh, das war ein Witz, du Blödmann! Wir kennen uns nicht. Tu nicht so, als würden wir uns kennen“, rügte sie mich. „Aber wir können uns kennenlernen, heh, heh, ich bin in aufgeschlossener Stimmung, möchtest du, dass wir uns kennenlernen oder nicht?“» (73)

    Bekim lässt sich auf eine Beziehung mit der Katze ein – trotz ihrer respektlosen Art, trotz der queerfeindlichen und rassistischen Äusserungen, trotz der Herabwürdigungen. Liegt genau darin die Unfähigkeit sich vom Patriarchat zu lösen? Weil es bekannt ist? Weil das Bekannte vermeintlichen Frieden verspricht? Frieden auf der Grundlage von Unfreiheit. Unfreiheit der Frauen und jener, die anders sind. Das zeigt sich auch in Bekims weiteren Beziehungen zu Männern, die kaum gleichberechtigt sind. Bekim unternimmt zwar den Versuch sich von patriarchalen Strukturen zu lösen – sein Verhalten aber gleicht dem von Emine, seiner Mutter, die als unterwürfige Frau, alles für ihren Mann tut und trotzdem nie genug ist.

    Die Katze bleibt bis zum Schluss Bekims Begleiterin. Seine Katze Jugoslawien, die er in einer Schlüsselszene, als er kurzzeitig in den Kosovo zurückkehrt, auf den Schultern trägt. (298ff.) Die Katze steht, wie mir scheint, nicht nur für das Patriarchat, sondern auch für eine Herkunft und Identität, die man nicht abschütteln kann, selbst wenn man versucht, sie durch Lügen zu verdecken. Als Bekims Freund zu ihm sagt: «Ich bin glücklich […] Bist du es auch?» (305) wird Bekim nachdenklich:

    «“Ja“, antwortete ich […]. Meinte er es wirklich, wenn er sagte, er sei glücklich, oder war er glücklich über seine Vorstellung, in denen er mich auf eine Weise liebte, auf die zu lieben er in der Realität nie fähig wäre? Ich versuchte Schlaf zu finden, aber als ich so über seine Worte nachdachte, musste ich an meine Mutter denken, […] Und nachdem ich mir vorgenommen hatte, sie gleich morgen anzurufen, fing ich an, an meinen Vater zu denken. An jenen Nachmittag, an dem ich ihm gesagt hatte, dass ich in der Stadt geschubst und beschimpft worden war» (ebd.)

    Die Antwort des Vaters lautete:

    «Sage ihnen niemals deinen Namen, und auch nicht, woher du kommst! Und dann fuhr er mit der Hand über mein Gesicht […] Sag ihnen nie, wer deine Eltern sind und wer deine Geschwister sind, sei niemandem im Weg und rede nicht, und wenn sie kommen und etwas fragen, weißt du, was du tust. „Ich lüge.“» (306)

    Dieser Moment hat etwas Archivisches. Er zeigt, dass die Erinnerung nicht verschwunden ist, sondern in scheinbar zufälligen Momenten wieder auftaucht. Nun ist das Archiv kein Ort des Zufalls. Es ist aber auch nicht frei von Zufällen. Dieser scheinbare Widerspruch liegt in dem Anspruch von Archiven (zumindest in jenen in Demokratien und Rechtsstaaten) begründet eine möglichst objektive und ethisch korrekte Erschliessung vorzunehmen bei gleichzeitiger Erkenntnis, dass man ein Leben niemals wird archivieren können. Es sind Spuren von Erinnerung, die sich in Archiven finden. Im besten Fall ist an ihnen ein möglichst breit gefächertes Spektrum an Wissen und Erfahrungen aus einer bestimmten Epoche ablesbar. Wo das nicht der Fall ist oder wir (noch) keinen Zugang zu diesem Wissen und den Erfahrungen haben, kommt die Literatur als Gegennarrativ, Gegenerfahrung oder Gegenmacht, ins Spiel.

    Wenngleich das Archiv als Ort in «Meine Katze Jugoslawien» keine Rolle spielt, so ist es der Zugang zur Erinnerung, der erst durch die Begegnung mit der Katze geöffnet wird und der eine Reflektion mit der eigenen Vergangenheit erst ermöglicht. Gerade in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens ist dieser Zugang zur Erinnerung in den Archiven, wie weiter oben beschrieben, (noch) nicht oder nur sehr eingeschränkt gegeben. So kann die Literatur, wenn nicht als Ersatz, so doch als Zusatz zum Archiv, vielleicht aber auch als eigenes Archiv betrachtet werden.

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    Kommen wir nun zum dritten und letzten Roman, den ich in diesem Beitrag besprechen möchte: «Radio Sarajevo». Von den drei ausgewählten Romanen ist «Radio Sarajevo» was die Erzählstruktur und die sprachliche Präzision angeht, womöglich der eingängigste. Keineswegs deswegen trivial – ganz im Gegenteil. Tijan Sila schafft es auf 173 Seiten mit einer Wucht und Radikalität von einem Krieg zu berichten, der nach der Lektüre nur zu der Erkenntnis führen kann: Wer ihn einmal erlebt hat, für den ist Krieg niemals vorbei. An einer Stelle heisst es: «1992 wusste kein Mensch in Sarajevo, dass ein Krieg niemals endet.» (33)

    Darum lese ich diesen Roman auch als eindringliche Mahnung alles Menschenmögliche zu unternehmen um weitere Kriege zu verhindern. Dass wir derzeit als Menschheit daran scheitern, darf nicht heissen, dieses Ziel aufzugeben. Es darf vor allen Dingen auch nicht heissen, diejenigen zu vergessen und zurückzulassen, die Krieg erlebt haben und durchleiden mussten und noch immer müssen. Noch weniger aber darf es heissen, das Erinnern zu vergessen und die Augen vor den Grausamkeiten des Kriegs zu verschliessen. Wenn schon Archive diesen Zugang (noch) verwehren, muss es dann nicht unsere Pflicht sein, mindestens denjenigen zuzuhören, die einen Einblick geben in dieses Schrecken? Nicht aus sadistischer Schaulust, sondern um zu verstehen, warum die Erfahrung des Krieges das wohl Fatalste ist, was einem Menschen zustossen kann und um der Einsicht Willen – und ich wiederhole mich – dass Krieg beendet und verhindert werden muss.

    Schon zu Beginn des Romans, der mit den Anfängen des Bosnienkriegs einsetzt, wird genau das deutlich. Am Morgen nach den ersten Kampfhandlungen sitzt die Familie am Frühstückstisch:

    «Ich nahm ein gekochtes Ei, schlug die Schale an der Tischkante weich – und begann plötzlich zu weinen. Meine Eltern schauten mich überrascht an. „Was hast du?“, fragte meine Mutter. „Wieso weinst du?“ Ich konnte es mir selbst nicht erklären.» (14)

    Allein in dieser anfänglichen Szene liegt eine Brutalität, die sich durch den gesamten Roman zieht. Der zehnjährige Junge, der noch bis vor wenigen Stunden, zwar nur in vermeintlichem Frieden, aber doch ohne Bombenangriffe, gelebt hatte, fängt an zu weinen und wird mit Unverständnis, nicht nur von den Eltern, sondern auch von sich selbst konfrontiert. Wenige Seiten später wird deutlich wie die Verdrängungsmechanismen einsetzen:

    «Das Bombardement hatte inzwischen eine solche Intensität erreicht, dass es mir vorkam, als seien wir nicht im Keller, sondern in der Trommel einer Waschmaschine im Schleudergang. Zwischen den Explosionen hörte man Mutter Hazifbegović weinen. Ich hingegen ertrug das Bombardement wieder ohne Tränen. Sobald geschossen wurde, verkroch sich mein Geist. […] Erst als nicht mehr geschossen wurde, trauten sich meine Gedanken aus ihren Löchern, schreiend, um sich beißend, und dann weinte ich. So war es in den ersten zwei oder drei Monaten des Kriegs, bis die Gewöhnung einsetze und ich aufhörte zu weinen – und zwar fast für die nächsten fünfzehn Jahre. Vom Juni 1992 bis zum Oktober 2007 vergoss ich keine einzige Träne. Ich verbot sie mir selbst nach dem Tod eines geliebten Menschen, etwa, als ein Freund verunglückte oder Oma Nadežda starb, und dieser Akt der Selbstbeherrschung bereitete mir eine seltsame Lust. Dass der Mensch sich an jede Qual gewöhnt, stimmt nämlich. Es stimmt jedoch auch, dass es eine Qual ist, sich wieder zu entwöhnen. Also verbrachte ich Jahre damit, meine Gefühle niederzukämpfen und mir dabei einzureden, dass ich auf diese Weise meine Willenskraft unter Beweis stellte.» (18f.)

    An anderer Stelle heisst es: «wir stumpften immer mehr ab. In den ersten Wochen hatte mir jede Detonation das Herz aussetzen lassen, inzwischen musste Außerordentliches passieren, damit ich einen Schreck bekam.» (63) 

    Durch den Krieg wird auch die für die damaligen Verhältnisse emanzipierte Mutter zurückgeworfen:

    «Der Krieg zwang meine Mutter, alles aufzugeben, was ihr Freude machte. Statt zu lesen, zu schreiben und zu unterrichten musste sie nun versuchen, in Feuerpausen uštipke zu backen (frittierte Teigbällchen, die man in Bosnien zu fast jeder Mahlzeit aß), und das auch noch mit vor Jahren abgelaufenem Maismehl. Aber immerhin hatten wir noch welches.» (33)

    Das aber ändert sich schon bald als die Lebensmittel knapper werden. Familien sehen sich gezwungen Läden oder Kinos zu plündern, die Kinder werden zu Kriminellen und Drogenabhängigen: «Ein wenig kam sie [die Plünderung] mir wie die Schändung meiner kommunistischen Kindheit vor.» (34) Mit jeder weiteren Seite wird dem Lesenden auf eindringliche Weise bewusst, dass Krieg ein Ringen um die eigene Würde ist. Es ist eine Herabwürdigung des Einzelnen: «Ich war nicht mehr derselbe. Ich schrieb keine Gedichte mehr, zeichnete und las kaum noch. Ich war zu einem Wildling geworden, der in Ruinen nach Pornoheften gesucht hatte.» (118)

    So könnte man fast jeden einzelnen Satz zitieren. Kein Satz in diesem kurzen, so präzisen Roman, ist einer zu viel. Und so möchte ich an dieser Stelle eindringlich darum werben diesen Roman zu lesen und die Anmerkung des Autors ernst zu nehmen: «Ich schrieb dieses Buch auch, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen.» Dies gilt ebenso für die beiden anderen Romane «Für Seka» und «Meine Katze Jugoslawien», wenngleich diese beiden aufgrund des Stils und der Form eine wohl aufmerksamere Leser*innenschaft benötigt. Dennoch lohnen sich alle drei Romane.

    Denn: Dem Vergessen kann nur etwas entgegengesetzt werden, wenn es eine Leser*innenschaft gibt. Genauso, wie ein Archiv, das zugänglich ist, aber nicht genutzt wird, bleibt Literatur, die zwar existiert, aber nie gelesen wird, nur im Bereich des Möglichen. [13]

    So lautet mein Appell zum Abschluss dieses Beitrags: Lest! Und redet darüber. Schreibt. Bloggt. Teilt eure Gedanken im digitalen und analogen Austausch mit anderen. In der Hoffnung, dass diejenigen, die das Erinnern verlernt und ihre Empathie verloren zu haben scheinen, diese wiederfinden mögen.


    [1] Sila, Tijan: Radio Sarajevo. München, Hanser Verlag, 2024 (7. Auflage).

    [2] Lepper, Marcel / Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart, Metzler, 2016.

    [3] Dugalic, Jaschar: Seit 25 Jahren werden 1600 Personen vermisst. Die während des Kosovkriegs Verschollenen dürfen nicht vergessen werden, sagt eine Belgrader Menschenrechts-Juristin, in: Neue Zürcher Zeitung, 31.10.2024, S. 2. (Printausgabe)

    [4] Natasa Kandic ist zudem Herausgeberin von «Dignity for the Missing» (August 2024). https://www.recom.link/en/dignity-for-the-missing-1636-still-missing/, zuletzt abgerufen am 27. Juli 2025.

    [5] [o.A.]: Die Suche nach den im Krieg Vermissten stockt, Serbien hält die Archive als Geisel, in: Gazeta Insajderi, 12.01.2025, zuletzt abgerufen am 27. Juli 2025.

    [6] Marani, Běla: Die Aufteilung der Archive bei Staatensukzession oder Gebietsverschiebung anhand der Auflösung des ČSFR, der Gründung des Kanton Jura und des Übertritts des Bezirks Laufen, in: Travaux du/Arbeiten aus dem Master of Advanced Studies in Archival, Library and Information Science, 2020-2022, veröffentlicht am 06.05.2024, zuletzt abgerufen am 27. Juli 2025.

    [7] Rabinovici, Doron: Vom Ort der Sammlung, in: Atze, Marcel (Hg. et al.): akten-kundig? Literatur, Zeitgeschichte und Archiv. Wien: Praesens, 2007/2008.

    [8] Hava, Mina: Für Seka. Berlin, Suhrkamp, 2023.

    [9] Hirsbrunner, Franziska: Schlau werden aus der Welt. Mina Hava erkundet ihre Herkunft. SRF, 25.03.2023, zuletzt abgerufen am 25. Juli 2025.

    [10] Zu dieser Unterscheidung und allgemein zum Thema autobiographische/autofiktionale Literatur empfehle ich: Arnold, Sonja (Hg. et al.): Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Kiel, Verlag Ludwig, 2018.  

    [11] Statovci, Pajtim: Meine Katze Jugoslawien. München, Luchterhand, 2024 (2. Auflage, finnische Originalausgabe 2014).

    [12] 2008 erklärte der Kosovo seine Unabhängigkeit. 117 von 193 Staaten der Vereinten Nationen haben diese Unabhängigkeit anerkannt. U.a. Serbien, Russland und China sowie die fünf EU-Staaten Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern verweigern die Anerkennung des Kosovo als unabhängigen Staat. (Quelle: https://www.dw.com/de/15-jahre-kosovo-der-weg-zur-unabh%C3%A4ngigkeit/a-64730830, zuletzt abgerufen am 23. Juni 2025).

    [13] In seinem Aufsatz Imaginäre Bibliotheken schreibt Henning Ritter: «Bücher […] werden nicht gelesen – eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen möglichen und wirklichen Büchern. Fasst man die möglichen Bücher ins Auge, dann fallen sogleich unter den wirklichen Büchern all jene auf, die, weil ungelesen, im Status möglicher Bücher verharren. Zusammen mit den möglichen Büchern markieren sie einen Bezirk der Latenz.» (in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Florian Klinger (Hg.): Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S. 195f.) Obwohl Bücher, die existieren, aber nicht gelesen werden, laut Ritter im Status möglicher Bücher verharren, können sie (anders als Bücher, die bislang nur oder noch nicht einmal als Idee bestehen) gelesen werden und sind immerhin näher im Bereich der möglichen Erfahrbarkeit als Bücher, die (noch) nicht existieren. Über diese Problematik liesse sich ausführlicher diskutieren, weshalb es an dieser Stelle bei einer Anmerkung bleiben soll.

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